ARS AUDIENDI
Die Kunst des Hörens

AUKIMO
Weisheiten Zitate


Geschichten

 

Die versunkene Kathedrale

— Eine altüberlieferte Geschichte —


Ein junger Mensch saß im Spätsommer des nachts am Strand einer Insel, nahe bei einem großen Lagerfeuer, das von Einheimischen entfacht worden war. Er lauschte ihren Erzählungen und vernahm diese Legende:

Auf einer benachbarten Insel stand einst eine Kathedrale mit wundervollen Glocken; es waren ihrer so viele, daß keiner die genaue Zahl kannte. Ging der Wind, hörte man die feinen Glocken singen. Wenn aber der Sturm brauste, ertönten alle Glocken auf einmal, auch die ganz großen. Da erklang eine so gewaltige Symphonie, daß jeder, der sie hörte, bis ins Herz von Seligkeit erfüllt wurde. Eine lange Zeit und noch eine verstrich, dann versank die Insel mit der großen Kathedrale im Meer. Man sagt, daß die Glocken in den Meeresfluten immer noch läuten. Und ein jeder, der horchend lauscht, kann sie hören. Wenn das Wasser sich bis in die Tiefen kristallklar öffnet, wird die Kathedrale sichtbar. Einmal sei sie sogar ganz langsam emporgetaucht und dann wieder versunken.

Der junge Mensch war fasziniert und beschloß, der Legende nachzugehen. Viele Tage lang saß er am Ufer und blickte in die Richtung der versunkenen Insel. Wach und entschlossen hörte er dem Meere zu. Doch außer dem Tosen und Atmen des Wassers, dem Schrei der Möwen und dem Wind in den Sträuchern gab es nichts, da waren keine Glocken. Er strengte sich an, das tosende Geräusch zu ignorieren, doch es gelang nicht. Alles war voll davon. Weil er so sehr die sagenumwobenen Glocken hören wollte, verlängerte er seinen Aufenthalt auf der Insel. Das Meer hatte ihn ganz gefangen.

Manchmal sank sein Mut, doch dann, wie durch einen Zufall, saß er wieder am Lagerfeuer und hörte die Legende von der geheimnisvollen Kathedrale. Jedesmal erzählte sie ein anderer, und es klang wie neu in seinen Ohren. Sein Herz brannte vor Sehnsucht. Doch all sein Mühen blieb ohne Erfolg.

Schließlich gab er auf. Es war ihm nicht vergönnt, das Singen der Glocken zu hören. Enttäuscht dachte er, keiner Legende mehr glauben zu wollen. Er packte seine Sachen, und bevor er abreiste, ging er noch einmal an den Strand. Er wollte sich von dem inzwischen so vertrauten Ort verabschieden, vom Meer und dem Wind und den Möwen. Er setzte sich einfach an den Strand und ergab sich der Schönheit dieses Ortes. Etwas in ihm öffnete sich und lauschte tiefer in das Rauschen, als er es je zuvor getan hatte. Ganz verwundert merkte er, wie sich in der Mitte des Tosens eine Stille ausbreitete, die sein Herz berührte.

Und da geschah es! Er hörte das helle süße Singen einer kleinen Glocke! Und gleich dazu das warme Summen mehrerer Glocken. Und schließlich das mächtige Brummen von sehr großen. Langsam erfaßte er den Zusammenklang, und es war ihm, als entspringe diese unendlich schöne Harmonie mitten in seinem Herzen.


nach einer bretonischen Legende,
neu nacherzählt von Wolfgang Zeitler Oktober 2024
meine ältere Version von 12.2006/10.2017 kursiert
inzwischen wortwörtlich im Netz, ohne Quellenangabe:
https://www.neue-wege-4you.de/geschichten/13-die-versunkene -kathedrale/

Claude Debussy hat dieser Legende ein tönendes Denkmal gesetzt (La cathédrale engloutie).



Maria durch ein Dornwald ging  (Volksweise)


Kyrie eleison
Maria durch ein Dornwald ging, Kyrie eleison!
Maria durch ein Dornwald ging,
Der hat in sieben Jahren kein Laub getragen
Jesus und Maria!

Kyrie eleison
Was trug Maria unter ihrem Herzen, Kyrie eleison?
Ein kleines Kindlein ohne Schmerzen,
Das trug Maria unter ihrem Herzen,
Jesus und Maria.

Kyrie eleison
Da haben die Dornen Rosen getragen, Kyrie eleison!
Als das Kindlein durch den Wald getragen,
Da haben die Dornen Rosen getragen,
Jesus und Maria.


Unglück oder Segen?
vom Urteilen

Ein alter Mann lebte in einem Dorf, sehr arm. Doch der König war neidisch auf ihn, denn er besaß ein wunderschönes weißes Pferd. Der König bot phantastische Summen für das Pferd, aber der alte Mann sagte dann: “Dieses Pferd ist für mich ein Freund. Wie könnte man einen Freund verkaufen?” Der Mann war arm, doch sein Pferd verkaufte er nie.

Eines Morgens fand er sein Pferd nicht im Stall. Das ganze Dorf versammelte sich, und die Leute sagten: “Du dummer alter Mann! Wir haben immer gewusst, dass dein Pferd eines Tages gestohlen würde. Es wäre besser gewesen, es zu verkaufen. Welch ein Unglück!”

Der alte Mann sagte: “Ich weiß nur diese Tatsache, das Pferd ist nicht im Stall. Ob dies ein Unglück ist oder ein Segen, weiß ich nicht. Wer weiß, was darauf noch folgen wird.” Und die Leute lachten den Alten aus. Sie wussten ja schon immer, dass er ein wenig verrückt ist.

Nach fünfzehn Tagen kehrte eines Abends das weiße Pferd zurück, und mit sich brachte es noch ein Dutzend wilder Pferde! Es war nicht gestohlen worden, sondern in die Wildnis ausgebrochen. Aufgeregt versammelten sich die Leute: “Alter Mann, du hattest recht! Es war kein Unglück. Es hat sich tatsächlich als ein Segen erwiesen!”

Der Alte entgegnete: “Ihr geht schon wieder zu weit. Sagt einfach: das Pferd ist zurück. Wer weiß, ob das ein Segen ist oder nicht?” Die Leute wussten nichts einzuwenden, sie waren sich aber gewiss, dass der Alte unrecht hatte - zwölf herrliche Pferde waren mitgekommen!

Der alte Mann hatte aber einen einzigen Sohn, der begann die Wildpferde zu trainieren. Schon eine Woche später fiel er vom Pferd und brach sich die  Beine. Da eilten die Leute herbei und riefen: “Wieder hattest du recht! Es war kein Segen, sondern ein Unglück! Dein einziger Sohn kann seine Beine nicht mehr gebrauchen. Er war die einzige Stütze deines Alters. Nun bist du ärmer denn je.”

Der Alte antwortete: “Ihr seid besessen von Urteilen. Geht nicht zu weit! Sagt nur, dass mein Sohn sich die Beine gebrochen hat. Niemand weiß, ob dies ein Unglück ist oder ein Segen.”

Es ergab sich aber, dass im Lande ein Krieg begann. Alle jungen Männer des Dorfes wurden zu Soldaten des Königs gemacht und zogen davon. Nur der Sohn des alten Mannes blieb zurück, denn er war nicht zum Krieg zu gebrauchen. Das ganze Dorf war von Klagen und Wehgeschrei erfüllt, weil keiner damit rechnete, dass dieser Krieg zu gewinnen sei und die jungen Männer wahrscheinlich nicht mehr zurückkehren würden. Sie kamen zum alten Mann und sagten: “ Du hattest recht, alter Mann, es hat sich als ein Segen erwiesen. Dein Sohn ist zwar ein Krüppel, aber er ist noch bei dir. Unsere Söhne sind für immer fort!”

Der Alte sprach: “Ihr hört einfach nicht auf zu urteilen. Sagt nur dies: Man hat eure Söhne in den Krieg eingezogen und mein Sohn wurde nicht eingezogen. Wer weiß, ob dies ein Segen oder ein Unglück ist?”
undsoweiter...

(wo die Geschichte herstammt, weiß ich leider nicht)



Pia de Jong, Gedichte